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EVAKUIERUNGEN TODESMÄRSCHE

Gedenken zum 12. April 1945

Von Wolfgang Böhm und Wolfgang Heidrich

An diesem Tag wurden KZ-Häftlinge, die bisher im Rüstungsbetrieb HASAG in Altenburg unter unmenschlichen Bedingungen Munition für den Krieg produzierten, auf einen Evakuierungsmarsch getrieben. Die Bürger des Altenburger Landes nahmen dieses Ereignis zum Anlass, sich der KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen zu erinnern. Seit 2008 wurden auf dem Gelände der ehemaligen HASAG, inszeniert durch den Altenburger Geschichtsverein e.V. (AGV), Gedenkveranstaltungen durchgeführt, bzw. auf Grund der Pandemie über die Medien erinnert. Doch was geschah in diesen Tagen?

Bevor die Evakuierung begann, kamen am 10. April 1945 etwa 1300 jüdische Frauen aus ebenfalls zu Buchenwald gehörenden Außenlager Sömmerda in Meuselwitz und Altenburg an. Über Buttstedt, Eckardsberga, Bad Kösen, Naumburg und Zeitz marschierten die Frauen zunächst in das bereits geräumte Außenlager der BRABAG Zeitz in Tröglitz. Nach der Übernachtung vom 9. zum 10. April marschierte die Kolonne weiter und wurde bei Wintersdorf in zwei Gruppen geteilt. Während die konditionell stärkeren Frauen in das Lager des Altenburger HASAG-Werkes marschieren mussten, wurde die zweite Gruppe in das Außenlager beim Meuselwitzer HASAG-Werk gebracht.

Für die Sömmerdaer Gruppe bedeutete das Erreichen des Altenburger Lagers die erste größere Marschpause mit einer Dauer von über 24 Stunden, denn die Kolonne, also auch die Bewacher, hatte bereits etwa 130 Kilometer zurückgelegt.

In Altenburg befanden sich am 11. April 1945 etwa 3100 weibliche und 300 männliche KZ-Häftlinge. Als erste verließen die Frauen aus Sömmerda noch am Nachmittag das Zwangsarbeiterlager in Altenburg. Die etwa 600 – 650 Frauen marschierten, wahrscheinlich in zwei Marschblöcken, auf der Route, auf der später auch die Altenburger Häftlinge folgten.

Vor dem Abmarsch der Häftlinge wurden die Spuren, die das Ausmaß der KZ-Zwangsarbeit belegten, insbesondere Akten der SS beiseitegebracht. Zur Ausrüstung des Marsches wurde, je nach Befehl, auch die persönliche Ausrüstung der SS-Leute mitgeführt und auf LKW verladen. Dazu gehörte auch die im Lager vorhandene Verpflegung, die, je nach letzter Belieferung durch lokale Versorger, ergänzt wurde und zwei oder drei Tage reichen musste (einschließlich aller zum Lager gehörenden Häftlinge).

Vor der eigentlichen Kolonne agierte ein Vorkommando, das die Aufgabe hatte, die Route zu erkunden und Quartiere für Marschpausen vorzubereiten, das heißt, auch in den Dörfern entsprechende Verhandlungen zu führen. Die zur Unterstützung Verpflichteten hatten einen Rechtsanspruch auf Entschädigung durch die örtliche Verwaltung, der im Nachgang zu regulieren war. Diese Erkundung war wohl auch entscheidend für die Wahl des Weges von Altenburg durch das Pleißental Eine möglichst flache Strecke, um die Kräfte der Häftlinge, aber auch Bewacher, nicht übermäßig zu strapazieren.

Normalerweise legten die Kolonnen eine Marschstrecke von etwa 20 bis 25 Kilometer am Tag (oder in der Nacht) zurück, wobei die Marschzeit pro Tag etwas acht bis zwölf Stunden betrug. Nur in Ausnahmefällen, und dies war meist die unmittelbare Frontnähe, wurden Marschstrecken von bis zu 40 Kilometern zurückgelegt. In solchen Fällen erhöhten die Wachmannschaften auch den Druck auf das Marschtempo der Häftlinge, was sich in einem noch aggressiveren Agieren zeigte. Nach solchen Gewaltmärschen oder aber nach etwa fünf aufeinanderfolgenden Marschtagen folgte eine größere Pause.

Aussagen überlebender Häftlinge lesen sich dagegen anders. Angaben über täglich zurückgelegte Strecken erscheinen fast doppelt so hoch und es scheint zudem ein recht zielloses Marschieren gewesen zu sein. Doch dieser Eindruck täuscht: Die SS-Leute hatten keinen Grund, den Häftlingen ihre tatsächlichen Ziele zu offenbaren, und auch beim Marschieren in unbekanntem Gebiet erscheinen zurückgelegte Strecken wesentlich länger. Hinzu kam der Druck aus einer lebensbedrohlichen Situation, in der sich die Häftlinge befanden. Beim Appell vor dem Abmarsch wurde zudem klar angedroht, dass jedes Verlassen der Marschordnung als Flucht gewertet wird, die mit dem Tod bestraft wird.

Zu den Vorgaben im Evakuierungsbefehl gehörten auch ein Marschziel und ein Korridor, in dem sich die Kolonne zu bewegen hatte. Für Jüdinnen in Altenburg und die Frauen aus Sömmerda war das Marschziel wahrscheinlich Theresienstadt. Dies entspräche der allgemeinen Tendenz im KZ Buchenwald, alle jüdischen Frauen am Südostrand des Einzugsgebiets des KZ zu sammeln. Sie wurden dann auch mit diesem Ziel evakuiert. Grund hierfür war Himmlers Plan, diese Häftlinge als Verhandlungsmasse bei seinen Verhandlungen mit den westlichen Alliierten einzusetzen. Für die nichtjüdischen Frauen aus Altenburg kommt eines der Frauen-Außenlager des KZ Flossenbürg auf böhmischem Gebiet als Marschziel in Frage.

Nachdem bereits am 11. April die Frauen aus Sömmerda weitermarschiert waren, begann wahrscheinlich am Abend auch der Abmarsch der Altenburger Frauen. Zumindest ein erster Block von 500 Frauen wurde im Marsch gesetzt. Auch bei der Aufstellung der Marschblöcke folgte die SS ihrem rassistischen Wertemuster und so mussten zuerst die Kategorie der politischen und anderen Häftlinge antreten, während die Jüdinnen die Räumungsarbeiten verrichten mussten. Die letzten Marschblocks verließen am 12. April 1945 das Lager, wobei nicht klar ist, ob auch in der Nacht abmarschiert wurde. Ziemlich zum Schluss verließen auch die letzten LKW das Lager. Für das Lager bei der HASAG war zu beobachten, dass gegen marschunfähige Häftlinge, die an fast allen Lagerstandorten zurückgelassen wurden, keine Zwangs- oder Gewaltmaßnahmen ausgeübt wurden.

Die Marschblocks durchquerten als erstes die Winterstraße. Hier hatte die Zeitzeugin Maria Kühl die Kolonnen beobachtet. Weiter ging es durch die Straßenunterführung unter der Bahnstrecke Leipzig-Altenburg. Sie marschierten parallel zur Bahnstrecke, an der Skatfabrik vorbei, über die Brunnenstraße heraus aus Altenburg ins Pleißental. Über Münsa, Lehndorf (R93) und Gößnitz wurde die „Hohe Straße“ erreicht und die Sömmerdaer und zumindest der erste Marschblock der Altenburger Frauen überquerten die Autobahn A 4. Auf dieser Strecke muss auch die erste Marschpause erfolgt sein. Am 13. April bewegten sich diese Gruppen mit einer Gesamtstärke von etwa 1500 Häftlingen weiter über Mosel und Schlunzig in Richtung Südosten, gerieten jedoch in die Nähe der von Westen vorrückenden amerikanischen Verbände.

 


In dem Durcheinander von militärischen Bewegungen, flüchtenden Zivilisten und Gefangenenkolonnen gelang es offenbar nur dem ersten Marschblock mit etwa 300 Jüdinnen aus Sömmerda, dem amerikanischen Vorstoß zu entgehen. Diese Frauen wurden von ihren Bewachern – auch SS-Männer flüchteten bei diesen Märschen und wurden dann durch Kräfte des örtlichen Volkssturms ersetzt – bis nach Böhmen getrieben. So gab eine Bewacherin an, bis Hüttmersgrün (Vrch) marschiert zu sein. Der genaue Weg der Kolonne konnte bisher jedoch nicht rekonstruiert werden.

Die andere Gruppe mit Sömmerdaer Frauen schwenkte von der B 93 wieder nach Norden und marschierte nach Glauchau zurück, um wahrscheinlich von dort in östliche Richtung zu marschieren. Doch damit liefen sie genau in den amerikanischen Vorstoß hinein. Die Frauen erlebten in und um Glauchau ihre Befreiung.

Die Spitze der Altenburger Häftlingsfrauen, die ebenfalls die A 4 überquert hatten, wurde zumindest teilweise nach Westen, also direkt zu den Amerikanern gebracht. Dies fiel offenbar selbst SS-Bewachern nicht so schwer, da es sich hierbei nicht um jüdische Häftlinge handelte. Sie waren bis zuletzt meist besser als jüdische Häftlinge behandelt wurden. In solchen Fällen erhofften sich die Bewacher Vorteile bei der Gefangennahme.

Etwa die Hälfte der Marschkolonne überquerte die A 4 nicht mehr. Sie waren offenbar am 12. April in Altenburg abmarschiert und am Abend in der Nähe von Meerane, wo eine Marschpause eingelegt wurde. Am 13. April konnten sie dann auf der R 93 die Autobahn wegen des amerikanischen Vorstoßes nicht mehr passieren. Es wurde versucht, über Höckendorf bei Glauchau in südöstlich Richtung zu passieren. Man kam jedoch nicht in die Stadt und musste über Jerisau wieder auf die Nordseite der A 4 marschieren. Schließlich gelangte diese Kolonne nach Pfaffroda. Einzelne Gruppen von Häftlingsfrauen wurden vor allem in Meerane und Pfaffroda befreit.

Mindestens eine weitere Marschgruppe war unterdessen offenbar direkt von Meerane über Pfaffroda nach Waldenburg/Sachsen marschiert und traf gegen Mittag auf dem Markt der Stadt ein. Der letzte Befehl war offenbar die Anweisung, zum Rotenberg zu marschieren, um dort die Tagesverpflegung in Empfang zu nehmen. Dazu kam es aber nicht mehr. Kurz nach dem Eintreffen auf dem Markt wurde in der Stadt Feindalarm ausgelöst, was die Bevölkerung veranlasste, die vorgesehenen Schutzräume aufzusuchen. Für die Häftlingskolonne, es waren mittlerweile etwa 800 Häftlinge, gab es keine Schutzräume. Und SS und sonstige Bewacher zogen es vor, zu verschwinden. Damit waren die Häftlinge frei – und sie gingen in die Wohnungen der Waldenburger.

Die Amerikaner besetzen die Stadt und als die Bewohner in ihre Wohnungen zurückkamen, mussten sie die neuen Untermieter akzeptieren. Sie blieben im Wesentlichen bis zum Abzug der amerikanischen Truppen in Waldenburg. In dieser Zeit organisierte vor allem der von den Amerikanern eingesetzte Bürgermeister.

Während über den Verbleib der meisten männlichen Häftlinge des KZ-Außenlagers bisher keine Informationen gefunden wurden, kann festgestellt werden, dass der größte Teil der Frauen, die vom KZ Altenburg abmarschierten, dem Streifen entlang der Autobahn 4 zwischen Zwickau und Waldenburg, den die amerikanischen Truppen bei ihrem Vorstoß bestreiften, befreit wurden. Über Todesopfer liegen keine Angaben vor – und es hat sie offenbar auch nicht gegeben. Gründe dafür waren, dass trotz der Härte, die in den Lagern herrschte, der Umgang mit den inhaftierten Frauen im Allgemeinen erträglich war und sich die Evakuierung noch im Anfangsstadium befand. Hinzu kam, dass der angreifende Feind amerikanische Truppen waren, vor dem auch SS-Leute bereit waren zu kapitulieren. Erschießungen von flüchtenden Häftlingen sind nicht überliefert.

Die Evakuierungen erfolgten keineswegs ziellos, sondern vor dem unmittelbaren Abmarsch bzw. Abtransport erhielt der Transportführer (in der Regel der Lagerführer) einen Befehl, wohin die Häftlinge zu bringen waren und er war als militärischer Chef auch dafür verantwortlich, dass dieses Ziel erreicht wurde. 

Da es am Ende des Krieges auch bei den Bewachern zu immer größeren Auflösungserscheinungen kam, wurden auch immer stärker die lokalen Ordnungskräfte - und auch solche, die sich dafür hielten - zur Bewachung der Kolonnen herangezogen. Und je näher die aktuelle Kampfzone kam, umso weiter sank die Befehlsgewalt bis auf die lokale Ebene hinab. Irgendwann war es dann so, dass sich jeder nur noch um sich bzw. seine Gruppe kümmerte.

Solange die Häftlinge noch unter Bewachung unterwegs waren, herrschten unter den verschiedenen, vor allen nationalen Gruppen Konkurrenz, die sich teilweise auch sehr handfest entluden. Solche Verbünde blieben auch nach dem Verschwinden der Bewachung nicht zusammen, sondern lösten sich schnell auf.   

Grafiken: Archiv Böhm / Heidrich

Ausführlichere Informationen und weitere Überlegungen zum historischen Geschehen finden Sie hier:

Wolfgang Heidrich: In der Anlage habe ich meine Vorstellung über die Marschstrecke nach Waldenburg dargestellt. Dabei weiche ich von der von uns befahrenen Strecke sowohl im Pleißental als auch vor Waldenburg ab: Ich vermute, dass die Kolonne von Nobitz bis Zehma östlich der Pleiße geblieben ist, um möglichen Feindberührungen aus dem Weg zu gehen. Der Weg von Pfaffroda über Neukirchen erscheint mir ebenfalls besser gewesen zu sein, da man auf der Straße an der Zwickauer Mulde wohl aus militärischen Gründen möglichst wenig Verkehr zugelassen wurde.



COLDITZ - AUSSENLAGER DES KZ BUCHENWALD

KZ-Außenlager von Buchenwald in Sachsen COLDITZ

Evakuierung 14. April 1945:

Abmarsch in Colditz, Erschießung mehrerer Häftlinge, die sich versteckt hatten. Neun oder zehn Häftlinge wurden von amerikanischen Truppen befreit

Verlauf / Orte / Todesopfer / Marschstrecke:

14. April 1945: Colditz – Hausdorf (1†)Gersdorf (1†)Harthaer Kreuz (1†) – Hartha – Waldheim – Massanei.

15. April 1945: Massanei (2†) – Reichenbach – Etzdorf – Nossen.

16. April 1945: Nossen (1†)Zellwald (25†) – Siebenlehn – Kleinvoigtsberg (Flucht drei deutscher Funktionshäftlinge aus Jena) – Halsbrücke – Conradsdorf.

17. April 1945: Conradsdorf (4†) – Naundorf – Ortsgrenze zwischen Nieder- und Oberbobritzsch.

18. April - 20. April 1945: Nieder-/Oberbobritzsch – Kleinbobritzsch.

20.April 1945: Marschpause.

21. April - 26. April 1945: Kleinbobritzsch – Reichenau – Rehefeld-Zaunhaus (Sachsen wurde verlassen).

26. April 1945: Teplitz-Schönau – Welemin – Leitmeritz (Aufnahme der nichtjüdischen Häftlinge).

Ende der Evakuierung:

27. April 1945: Leitmeritz – Theresienstadt, Ankunft von 399 Häftlingen aus Colditz in Leitmeritz.

Bis 8. Mai 1945: Tod von drei Häftlingen,

nach der Befreiung starben weitere 13 Häftlinge in Theresienstadt.

Besonderheiten der Evakuierung: Nach der Marschpause in einem Steinbruch bei Kleinbobritzsch nahm die Zahl der Erschießungen massiv zu. Erst nach Ablösung des Kommandeurs der Kolonne auf böhmischem Gebiet wurden diese eingestellt und die Häftlinge mit Nahrung versorgt.

Juristische Aufarbeitung: Sowohl bei Ermittlungen unmittelbar nach dem Krieg wie durch die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen wurden keine hinreichenden Verdachtsmomente gegen Verdächtige oder deren Aufenthaltsorte ermittelt.

Quellen: Martin Schellenberg, Colditz, sowie Matthias Braun, Jena (RAW), in: Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Band 3, S. 406–408, 467–469;

Greiser, Die Todesmärsche von Buchenwald (hierzu die Ausführungen zu Colditz und Jena);

György Endre, Artikelserie zum KZ-Außenlager Colditz, Budapest 1946,

Museum der Stadt Colditz;Poloncarz, Die Evakuierungstransporte nach Theresienstadt (April – Mai 1945);

Archiv der Gedenkstätte Buchenwald;

Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg, Akte 15489 und (Jena);

Staatsarchiv Leipzig, 20232,

Kreistag/Kreisrat Döbeln, Akte 1083.





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